Klang
Klangoptimierung
Was unterscheidet eine billige Schülergeige von einem Solisteninstrument? Liegt es an gewissen Baumerkmalen, am Alter des Instruments, an dessen Herkunft, am Namen seines Erbauers oder derer, die es gespielt haben oder vielleicht doch an einem verlorenen Geheimnis? Wohl kaum auf einem anderen Gebiet gibt es so viele selbsternannte Forscher und Fachleute, die uns ihre persönlichen Meinungen als die Wahrheit verkaufen wollen. Normalerweise haben wir ja nicht das Fachwissen, um Aussagen zu diesem Thema beurteilen zu können. Und so sind im Laufe der Jahrhunderte rund um die Geige Mythen entstanden, gepflegt und weitererzählt worden. Es liess sich damit auch trefflich Geld verdienen.
Wie leistungsfähig sind Sie, wenn Sie gerade einen Migräneschub haben, oder wenn soeben Ihre Hauptbeziehung in die Brüche gegangen ist? Um zu funktionieren oder gar Höchstleistungen erbringen zu können, müssen alle Teile unseres Organismus möglichst reibungslos zusammenarbeiten. Das ist bei einem Streichinstrument nicht anders. Genau genommen sind es hier das Instrument, der Bogen und der Spieler, die zusammen einen Organismus bilden, dessen einzelne Teile jeder für sich selber qualitativ hochstehend sein und aber auch optimal auf alle anderen mitbeteiligten Elemente abgestimmt sein sollten, um die bestmögliche Leistung (in der Musik) bringen zu können! Man kann nicht sagen, wie genau ein einzelnes Teil eines Instruments, also etwa die Aussenwölbung der Decke oder die Stärke des Bassbalkens gearbeitet sein muss, um das bestmögliche klangliche Resultat zu erreichen. Ein einzelnes Teil kann je nachdem ziemlich abstrus daherkommen, solange der ganze Rest entsprechend gearbeitet ist, dass das Ganze in sich harmoniert! Wenn z.B. eine Geigendecke hoch gewölbt ist mit starken Rundungen, bringt das viel Stabilität, was aber bedeutet, dass die Decke dünner ausgearbeitet werden muss, damit die nötige Flexibilität gewährleistet bleibt.
Von all den Bauelementen einer Geige möchte ich hier die Erarbeitung der Stärkenverteilung von Decke und Boden herausgreifen und näher beleuchten. Es ist dies meiner Erfahrung nach ein sehr wichtiger Abschnitt im Entstehungsprozess eines Streichinstruments, der aber ganz unterschiedlich angegangen werden kann, solange das Resultat, die fertige Geige, funktioniert!
Ich stelle immer zuerst die Aussenwölbung fertig, bevor ich mich an die Innenausarbeitung mache, die immer direkt abhängig ist von der Art, wie die Aussenwölbung gearbeitet ist. Diese habe ich gerne relativ tief und flach und vor allem harmonisch; ich mag keine unmotivierten Löcher, Gräben, Rippen, Kanten oder Buckel.
Zuerst wird mit dem groben "Löffel", dann mit verschiedenen kleinen Wölbungshobeln Schicht um Schicht Holz aus den Platten (Decke und Boden) herausgearbeitet und immer wieder an vielen Punkten die Dicke (Stärke) gemessen und angeschrieben, etwa wie hier, wobei hier zur Verdeutlichung die Plattenregionen je nach Stärke entsprechend eingefärbt sind:
Geige von F. Bocek, Schönbach, 1955
Wie aus den Bildern ersichtlich wird bei flachen Aussenwölbungen in der Regel die Decke weitgehend gleichmässig ausgearbeitet, wohingegen der Boden in der Mitte etwa in Steghöhe ein deutliches Maximum hat und normalerweise im Randbereich am schwächsten ist. Wenn man dem Endzustand immer näher kommt, werden die Platten langsam biegsam; man kann sie in den Händen verbiegen und dabei die Steifheit/Flexibilität prüfen. Allerdings braucht es sehr viel Erfahrung, um auf diese Weise zu stichhaltigen Aussagen zu kommen. Natürlich hat man Erfahrungswerte, in welchem Rahmen sich die Stärkenverteilung bewegt. Auch das Gewicht kann einen Anhaltspunkt liefern; man weiss, dass Decken mit Bassbalken und ohne Lack zwischen 65 und 80 g wiegen, Böden zwischen 100 und 110 g.
Das Bi-Tri-Oktav-Verfahren von Carleen M. Hutchins
In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat die Amerikanerin Carleen M. Hutchins u.a. auch zu diesem Thema interessante Forschungen betrieben. Sie hat bei Dutzenden von Geigen, die sie mit ihren Mitarbeitern gebaut hat, während dem Bauprozess etwa 30 verschiedene Schwingungsformen der frei schwingenden Platten untersucht, gemessen und notiert. Man kann sich vorstellen, dass eine Decke oder ein Boden auf verschiedenste Arten verbogen oder verdreht werden kann. Jede dieser Schwingungsformen (=Modi) hat eine von der Holzqualität, der Art der Aussenwölbung und der Stärkenverteilung abhängige ganz bestimmte Eigenfrequenz, bei der die Platte sehr gut mitschwingt, wenn sie mit dieser Frequenz angeregt wird. Hutchins hat nun diese Modi geordnet nach ihren Eigenfrequenzen, also die Nr. 1 erhielt jener mit der tiefsten Eigenfrequenz usw.
Nach Fertigstellung der Geigen wurden sie gespielt und nach Klangqualität sortiert. Dann nahm man die während dem Bau gemachten Aufzeichnungen der klanglich besten Geigen, verglich sie miteinander und kam auf erstaunlich einfache Gesetzmässigkeiten:
- Relevant sind Modus 1, 2 und 5 bei der Decke, Modus 2 und 5 beim Boden.
- Modus 2 sollte bei Decke und Boden jeweils dieselbe Eigenfrequenz aufweisen, ebenso Modus 5 und ausserdem
- sollten bei beiden Platten die Moden 2 und 5 eine Oktave auseinander liegen. Als letztes sollte Modus 1 der Decke möglichst eine Oktave unter Modus 2 sein.
Die fetten Linien sind Knotenlinien, d.h. sie bezeichnen die Punkte, die beim betreffenden Modus in Ruhe sind. Dazwischen die Bewegungsmaxima, mit + oder - je nach Phase, in der sie sich befinden.
Die Eigenfrequenzen der 3 interessanten Modi bestimme ich, indem ich die Platte an drei Punkten unterstütze, die auf einer Knotenlinie des gewünschten Modus liegen und mit einer befeuchteten Glaskapillare an einem Bewegungsmaximum anrege. Die Höhe des entstehenden Piepstons lese ich an einem Stimmgerät ab. Mit etwas Erfahrung ist bald klar, ob man den gewünschten Ton gefunden hat. Wer unsicher ist, kann z.B. mit auf die Platte gestreutem Sand anhand der beim Piepsen entstehenden Chladni-Figuren beurteilen, ob er den gesuchten Modus getroffen hat. Nr. 5, der Ringmodus, ist identisch mit dem Klopfton, der entsteht, wenn man die Platte zwischen zwei Fingern hält und dann daran klopft.
Die Geige von F. Bocek mit der oben gezeigten Stärkenverteilung wies folgende Eigenfrequenzen auf:
Modus 1 | Modus 2 | Modus 5 | Masse (mit Lack) | |
Decke (mit Bassbalken) | f | f-40 | f | 87.5g |
Boden | / | e | f-20 | 106g |
Das Ziel ist somit klar. Aber wie ist das zu erreichen, wie verändere ich einen Modus gegenüber den anderen? Um einen bestimmten Modus abzusenken, muss ich dort Holz entfernen, wo sich die Platte bei diesem Modus stark verbiegt, wo also die Reduktion der Steifheit bedeutender ist als jene der Masse.
Bei Hutchins habe ich keine klaren Anweisungen gefunden, wo in welchem Fall Holz wegzunehmen ist. Aber bei F. Rogers, einem mit Hutchins befreundeten Mathematiker, der das Problem rechnerisch angegangen ist.
Decke
Boden
Je dunkler rot eine Stelle eingefärbt ist, desto stärker sinkt die Eigenfrequenz des betreffenden Modus, wenn man an dieser Stelle Holz wegnimmt. Holzentfernen an blau eingefärbten Stellen erhöht die Frequenz - mindestens theoretisch! Man wird nämlich feststellen, dass
- die Eigenfrequenzen sich umso besser nach obigem Schema verändern, je näher am Endzustand die Ausarbeitung einer Platte ist. Anders und überspitzt ausgedrückt: Es funktioniert eigentlich erst richtig, wenn es schon fast zu spät ist!
- Das Bi-Tri-Oktav-Verfahren nennt Ziele, die in den seltensten Fällen perfekt zu erreichen sind. Die Holzparameter und die Aussenwölbung setzen manchmal Grenzen, die nicht zu überschreiten sind. Da darf man nicht sklavisch am Prinzip festhalten und dieses als alleiniges Ausarbeitungsverfahren betrachten. Als zusätzlicher Anhaltspunkt zur traditionellen Geigenbauer-Erfahrung kann es wertvoll sein.
- Zum Modus 2 bei der Decke: Meiner Erfahrung nach wird er stark betroffen nicht nur vom Bearbeiten des Zentrums im unteren Drittel der Decke, sondern von der Holzentnahme im Mittelbereich entlang der gesamten Länge der Decke. Das erschwert natürlich die Abstimmung von Modus 1 und 2.
- Die Einberechnung des Bassbalkens ist nicht ganz einfach: Er erhöht Modus 1 etwa um einen Viertelton, Modus 2 um einen halben und Modus 5 um einen 3/4-Ton - mehr oder weniger. Da wäre es einfacher, zuerst die Innenwölbung fertigzustellen, um nachher die Feinabstimmung von aussen vorzunehmen! Auf jeden Fall macht es Sinn, zuerst die Decke fertigzustellen, um anschliessend den Boden der Decke anzupassen.
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